Mittwoch, 16. Juli 2014

Philosophisches Café III: Hurricane-Phänomenologie


Hintergrund- und Vordergrundmusik. Diego Umaña Castros Präludien zu einer praktischen Philosophie des Absurden

Mein Besuch des Musikfestivals Hurricane hinterließ eine außerordentliche Menge an Eindrücken. Etwas, das für einen Phänomenologen, einen Menschen, der durch die Wirklichkeitsperzeptionen versucht, das wahre menschliche Wesen zu finden und zu ergründen, eine Menge an Arbeit bedeutet. Aber ich würde mich nicht freiwillig als ein solcher bezeichnen, wenn ich nicht Gefallen an einer solchen Tätigkeit hätte.
Musik gibt's auch bei Festivals
Meine nächtlichen Spaziergänge, inmitten dieses Tumults des Hedonismus zwischen den Zelten des Campinggeländes, waren eine große Motivationsquelle. Ich habe in diesen drei Tagen dort höchstens zehn Stunden geschlafen. Im Augenblick ist mir der Grund, warum ich nicht zusammengebrochen bin, nicht bekannt. Es lag vielleicht an der Musik, meinem übermäßigen Bierkonsum oder an der guten Laune der Menschen in meiner Umgebung. Eine Laune, die oft durch Zurufe wie „Wochenende!“, „Saufen!!“, „Scheiß Arbeit!!!“ meine Aufmerksamkeit erregten. Dieser Zusammenhang ist zu klären.

Ein Festival ist in zwei Gebiete unterteilt: das Festivalgelände und das Campinggelände. So sind auch die gesammelten Eindrücke in zwei Empfindungen geteilt. Die Empfindung des absurden Beisammenseins und die Empfindung der Geschmackstrennung.

Das absurde Beisammensein ist die Empfindung des Campinggeländes. Wenn so viele Menschen zusammen zelten, sich fast ausschließlich von Bier und mitgebrachten Dosengerichten ernähren und es manchmal dazu kommt, dass sie Drogen konsumieren, bildet sich eine einzigartige Atmosphäre. Diese Menschen verzichten auf die Wärme ihrer Betten und auf die Bequemlichkeit der normalen Körperpflege. Alle teilen diesen Verzicht, aber auch den Gewinn, der dadurch entsteht. Der Gewinn ist ein Erlebnis der „Niveaulosigkeit“.

Wenn man sich um vier Uhr morgens erwachsene Menschen anschaut, die zu „I’m a Barbie Girl“ abgehen, ist die Sinnlosigkeit ersichtlich. Die Tanzenden würden sich aber mit Sicherheit nicht im Alltag wiedererkennen. Wenn doch, würde eine gewisse Scham zu erspüren sein. Ernsthaftigkeit ist die Schwelle, die uns von dieser „Niveaulosigkeit“ trennt. Doch nennen wir diese Empfindung besser „Absurdität“, denn jeder von uns trägt diese Absurdität in sich.
Praktischer Hedonismus
Die Gesellschaft und Kultur kontrolliert ganz vernünftig diesen Teil in uns, mit ihren Regelungen und Gesetzen. Man ist nur in bestimmten Situationen bereit, ihr zu folgen: erst nach einem Impuls ist der Absurditätsausbruch befolgbar. Ich kann nicht aus meiner Laune heraus, während ich durch die Stadt gehe, „Strafbier!!!“ rufen. Ich könnte es, würde dann aber mit einer hohen Wahrscheinlichkeit in eine psychiatrische Klinik eingewiesen werden. So ist das Erlebnis, das Festivalbesucher genießen, die Möglichkeit, dieser Absurdität gemeinsam zu folgen. Das, was auf dem Festivalgelände vor sich geht, unterliegt einer anderen Natur.

 Die zweite Empfindung ist die der Geschmackstrennung: Es gibt eine Mannigfaltigkeit an Konzerten für den jeweiligen Musikgeschmack des Besuchers. Ich mag diese Band und gehe dahin, um sie mir anzusehen. Vor einem Augenblick noch waren diese Menschen in einem Kreis und sahen jemanden, der sich ein Bier in vier Sekunden eintrichterte, jetzt trennen sie sich zu den Konzerten, die jeder Einzelne sich anhören möchte. Das Beisammensein wird durch den Musikgeschmack abgelöst. Dieser Geschmack ist eine Neigung des Einzelnen und damit Teil des individuellen Charakters. Wenn der Kern des Beisammenseins die Absurdität ist, dann ist der Kern der Geschmackstrennung die Singularität. Dieses Etwas, das uns einzigartig macht, aber das uns trotzdem trennt.

Auf der einen Seite ist die Absurdität das, was uns vereint, und auf der anderen die Singularität, die uns trennt. Im Alltag sind beide zu finden. Die Absurdität lässt sich als eine Hintergrundmusik beschreiben und die Singularität als Vordergrundmusik. Im alltäglichen Umgang mit anderen Menschen bekommen wir nur die Vordergrundmusik zu spüren. Nur wenn es zu einem Bruch dieser Ernsthaftigkeit kommt, ist die Hintergrundmusik hörbar.

Jeder von uns besitzt die Absurdität und die Singularität in sich. Bei Events wie Musikfestivals, am Wochenende saufen gehen oder dem Public Viewing eines WM-Spiels ist dieser Bruch zu spüren: in dem Augenblick, wo jeder „Tor“ ruft, zu einem Lied mitsingt, also auf seine Singularität verzichtet – wegen der höheren Empfindung einer geteilten Absurdität. Es ist unvermeidlich, dass ich die Absurdität des Menschen, der vor mir steht, nicht spüren kann. Dennoch sollte an der Existenz einer solchen geteilten Wesenseigenschaft beim alltäglichen Umgang gedacht werden. Ein Einklang zwischen den zwei vorhandenen Melodien sollte angestrebt werden, um ein friedliches Leben zu führen.

Und es findet sich zwischen diesen beiden Melodien eine dritte, die beide in sich trägt. Diese enthält unsere Träume, Hoffnungen, Geheimnisse, Ängste, die Summe aller persönlichen Neigung, unsere Erinnerungen. Unsere Vergangenheit und unsere Zukunft. Das unwirkliche Ich, die absurde Singularität. Im Augenblick.

Nach dem Exzess ist vor dem Exzess. Das erstrebte friedliche Leben?
Dieses Etwas ist als Ganzes nie zu spüren. Nur Abschnitte kann das Bewusstsein sich vergegenwärtigen: eine konfliktschaffende Vergesslichkeit der Mischung beider Melodien. Die Singularität ist das, was die anderen von ihr spüren. Die Absurdität ist das, was wir manchmal zu spüren bekommen. Diese Musik ist die wahre Identität. Der Einklang von Hintergrundmusik und Vordergrundmusik. Das, was wir dauerhaft spüren, aber dennoch nicht gänzlich fühlen können. Konflikte entstehen, wenn Menschen nur aus Ihrem Empfinden der Vordergrundmusik ihr Handeln begründen und dabei die Existenz der Identität und Absurdität vergessen. Um ein friedliches Leben zu führen, ist eine Konzentration nötig.

Man kann sich die Existenz dieser drei Wesenseigenschaften nicht vorstellen, sondern muss sie spüren. Kurz schweigen und hören, welche Musik in unserem Wesen spielt.
  • Unser Autor Diego Umaña Castro gehört zur Abiturientia 2014. Er stammt aus Kolumbien. 2008 kam Diego nach Deutschland und ist seitdem auch WG-Schüler. Er plant, Chemie und danach Philosophie zu studieren. Dann will er in seinem Heimatland politisch aktiv werden. Sein Denken ist u. a. beeinflusst von den französichen Existentialisten Jean-Paul Sartre und Albert Camus sowie Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Außerdem ist Diego Anhänger der Kagyü-Linie des tibetischen Buddhismus.


Fotos: Diego Umaña Castro und Ben-Ole Holtz

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